»Figuren des Globalen: Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien« XV. Tagung der DGAVL in Bonn vom 15. – 18. Juni 2011

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Organisation: Prof. Dr. Christian Moser (Bonn), Prof. Dr. Linda Simonis (Bochum)

Am 18. März 2007 erschien in Le Monde des Livres ein von mehr als vierzig Autorinnen und Autoren unterzeichnetes Manifest, das einen Abgesang auf die Nationalliteratur traditionellen Zuschnitts anstimmt und die Existenz einer transnationalen französischsprachigen „littérature-monde“ proklamiert. Diese zeichne sich durch die Hinwendung zur Welt in ihrer ganzen räumlichen Extension und kulturellen Vielfalt aus; ihre Hauptvertreter entstammten nicht mehr der literarischen Metropole Paris, sondern der Peripherie, den ehemaligen Kolonialgebieten in Afrika, der Karibik und dem pazifischen Raum.
Der neue Weltbezug, der auf diese Weise für die Literatur beansprucht wird, lässt sich nicht allein auf einen nachgeholten Prozess der postkolonialen Bewusstseinsbildung zurückführen. Man kann ihn auch in Ländern beobachten, die über eine weniger deutlich ausgeprägte koloniale Vergangenheit verfügen als Frankreich oder Großbritannien. So weist etwa auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eine verstärkte „Welthaltigkeit“ (A. Honold) auf: Es ist in der Tat auffällig, daß eine Vielzahl neuerer Texte – von Christoph Buchs Haiti- und Ruanda-Texten über Daniel Kehlmanns Bestseller Die Vermessung der Welt bis hin zu Ilija Trojanows Der Weltensammler – gezielt in globale Dimensionen ausgreifen. Der gesteigerte Weltbezug ist offenbar ein allgemeines Kennzeichen der aktuellen literarischen Produktion. Er ist nicht nur auf die postkoloniale Dezentrierung des europäischen Literaturbetriebs zurückzuführen, vielmehr ist er ein Effekt jener ökonomischen, kulturellen und politischen Entwicklungen, die mit dem Schlagwort der Globalisierung bezeichnet werden. Die neue Welthaltigkeit der Literatur besitzt einen dezidiert konstruktiven und performativen Charakter: Literatur setzt sich demnach nicht bloß mit einer gegebenen Welt auseinander, sie ist darüber hinaus an der Herstellung von Welt(en) beteiligt. Insofern der Begriff der Welt auf eine geographische, kulturelle, politische und ökonomische Totalität verweist, die aufgrund ihrer gesteigerten Komplexität der Anschaulichkeit entbehrt, ist er auf die Darstellungs- und Konstruktionsarbeit der Literatur (und anderer künstlerischer Medien) angewiesen, um überhaupt vorstellbar zu sein. Indem die Literatur fiktive Welten entwirft, wirkt sie maßgeblich an der Konzeption von Globalität in den verschiedensten diskursiven Bereichen mit.

Der Weltbezug der Literatur ist mithin nicht bloß ein Effekt der Globalisierung, er ist vielmehr ein Medium der globalen Integration, der den Globalisierungsprozeß aktiv befördert. Und dies gilt nicht allein für die gegenwärtige Phase der Globalisierung. Denn wie die Geschichte der Menschheit, aus der Perspektive der „longue durée“ betrachtet, eine größere Zahl von „Globalisierungsschüben“ aufzuweisen hat (E. Schüttpelz), so finden sich auch in der Literaturgeschichte immer wieder historische Phasen und Bewegungen, aber auch Gattungen und Darstellungsformen, die sich in besonderer Weise der Herstellung eines totalisierenden Weltbezugs verschrieben haben: vom weltumspannenden Anspruch des antiken Epos bis zu den Universalisierungstendenzen des modernen enzyklopädischen Romans, vom barocken Welttheater bis hin zur Programmatik der romantischen Universalpoesie, von den mythischen Kosmogonien bis hin zu den Entgrenzungsszenarien der postkolonialen Literatur. Die verschiedenen Weltbegriffe und Weltmodelle, die dabei entwickelt werden, bedürfen einer eingehenden systematischen wie auch historischen Analyse. Sie müssen in Korrelation zu den ökonomischen, sozialen und kulturellen Globalisierungsprozessen gesehen werden, an denen sie jeweils partizipieren.

Das Ziel der Tagung besteht darin, die verschiedenen Modi der Weltdarstellung und Weltherstellung in ihrer historischen Bandbreite zu untersuchen. Spezifisch literarische Formen des Weltbezugs sollen dabei mit der Konstruktion globaler Zusammenhänge in anderen künstlerischen Medien (Film, Photographie, bildende Kunst) korreliert werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Wechselwirkungen, die zwischen literarisch-künstlerischen Weltkonstruktionen und den sozialen, ökonomischen und politischen Globalisierungsprozessen existieren. Inwieweit arbeiten fiktionale Narrative für oder gegen hegemoniale Semantiken und binäre Rhetoriken wie die des „Kampfes der Kulturen“? Wie werden dominante politische Narrative neu- bzw. umgeschrieben? Auf einer höheren Abstraktionsebene gilt es schließlich, die Analyse des Weltbezugs von Literatur und Kunst für eine Grundlagenreflexion der Disziplin Komparatistik fruchtbar zu machen. Inwiefern beeinträchtigt die gesteigerte Welthaltigkeit der Kunst den Status und das Selbstverständnis eines Fachs, das sich seit seinen Anfängen eine globale Perspektive zu eigen gemacht hat? Wie sollte sich die Komparatistik im Zeitalter der Globalisierung positionieren? Welche theoretischen und methodischen Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Konkret könnten sich die Tagungsteilnehmer mit den folgenden Teilaspekten der zugrunde gelegten Fragestellung auseinandersetzen:

• Figuren der Globalität und der Globalisierung: In den Diskursen der Globalisierung tauchen bestimmte Denkfiguren und Metaphern immer wieder auf – etwa die der Zirkulation (Globalisierung verstanden als grenzenlose und beschleunigte Zirkulation von Menschen, Informationen und Gütern). Die Bildlichkeit des Kreislaufes ist anschließbar an die Vorstellung der Globalität (Kugelform des Globus), zugleich ist sie dazu geeignet, verschiedene Diskurse, Medien und gesellschaftliche Bereiche (Ökonomie, elektronische Kommunikation, Politik) mit einander zu verbinden. Es ist nach der Herkunft, der Funktion und dem literarisch-künstlerischen Potential derartiger Figuren zu fragen. Tragen sie in ihrer proto-literarischen Konkretion dazu bei, Globalität vorstellbar zu machen? Inwiefern steuern sie das Verständnis von Globalisierung?

• Geographie und Geopoetik: Geographie wird hier nicht als Beschreibungsmodus verstanden, der eine neutrale Abbildung von Territorien leistet, sondern als ein performatives Set von Diskursen, Praktiken und Imaginationen, das Raumzusammenhänge – gerade auch in ihrer globalen Dimension – allererst hervorbringt. Zu untersuchen wären u.a. literarische Formen des ‚mapping’; die Wechselbeziehung zwischen Literatur und Kartographie; die poetische Konstruktion von Weltgrenzen und Welträndern, Weltzentren und Weltperipherien.

• Sprachen literarischer Globalität: Dem integrativen, universalisierenden Bestreben literarischer Weltkonzepte steht der (auf den ersten Blick widersprüchliche) Befund gegenüber, dass auch eine sich als global verstehende Literatur (zumeist) in einer konkreten nationalen bzw. kulturellen Einzelsprache verfasst ist. Auf welche Weise behandelt (globale) Literatur das damit angedeutete Paradox von Einheit der Welt/Pluralität der Sprachen ? Gibt es spezifische Konzepte und Lösungsversuche, die sie in Auseinandersetzung mit diesem Paradox entwickelt (Mehrsprachigkeit, Übersetzung etc.)?

• ‚Welt-Genres’: Erörtert werden soll der Zusammenhang zwischen Gattungszugehörigkeit, Gattungspoetik und Weltbezug. Gibt es literarische Genres, die sich durch eine besonders große ‚Welthaltigkeit’ auszeichnen (Reisebericht, Epos, Roman, Drama…)? Erfordert die Herstellung von Welt-Fiktionen die Überschreitung herkömmlicher Gattungsgrenzen und die Hybridisierung der Formen?

• Global stories/global icons: Zu fragen wäre nach den Möglichkeiten, Welt (verstanden als Totalität) zu narrativieren oder zu visualisieren. Welcher narrativen Muster, Plots oder Bildformeln bedienen sich Literaten, Filmemacher und Künstler, um Weltzusammenhänge darzustellen? Gibt es Handlungselemente, Motive und formale Techniken, die für die globale Erzählung typisch sind? Wie sehen globale Erzählungen in der Literatur aus, wie im Film?

• Weltgesellschaft, Weltöffentlichkeit, Weltstaat: Welche Bedeutung besitzen die Literatur und andere künstlerische Medien für die Herausbildung einer Weltgesellschaft? Spielen sie für die Herstellung einer Weltöffentlichkeit eine Rolle? Inwieweit bestimmt das Leitmedium des World Wide Web diese Rolle? Lassen sich die aktuellen Konzepte der Weltgesellschaft und des Weltstaates an den traditionellen Diskurs des Kosmopolitismus anbinden?

• Einheit und Differenz im Kontext von Globalität: Globalisierung erzeugt zwar eine Perspektive, die die Einheit und den Zusammenhang der Welt betont. Sie lässt jedoch zugleich auch regionale und kulturelle Differenzen auf neue Weise sichtbar werden. Wie geht eine Literatur des Globalen mit den Unterscheidungen von Selbst- und Fremdbezug, Eigenem und Anderem, regional/global um? Inwieweit zeichnen sich in den dargestellten Weltmodellen Inhomogenitäten, Ungleichzeitigkeiten, Brüche ab und wie werden diese reflektiert?

Die Auseinandersetzung mit der Welthaltigkeit von Literatur und mit literarischen Techniken der Weltherstellung kann schließlich dazu beitragen, ein vertieftes Verständnis des Konzepts der Weltliteratur (bzw. Weltkultur) zu entwickeln. Inwiefern bedarf dieser Begriff unter den Bedingungen der Globalisierung einer Revision? Anläufe zu einer Rekonzeptualisierung des Weltliteraturbegriffs wurden in den vergangenen Jahren vor allem in den USA (D. Damrosch, F. Moretti, E. Apter u.a.) und Frankreich (P. Casanova) unternommen, während die Debatte im deutschsprachigen Raum bislang noch nicht richtig in Gang gekommen ist. Die Tagung will die Impulse aus den USA und Frankreich aufnehmen und die deutschsprachige Komparatistik dazu anregen, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Nicht zuletzt geht es darum, Auswege aus einer paradoxen Situation zu finden: Während der Weltbezug der Literatur immer deutlicher in Erscheinung tritt und die Notwendigkeit eines komparatistischen Zugriffs somit immer unabweisbarer wird, ist die Komparatistik als ‚kleines Fach’ gerade im Zuge von Internationalisierungsbestrebungen wie etwa denjenigen des Bologna-Prozesses zunehmend in ihrer Existenz bedroht.

Themenvorschläge mit Abstract (im Umfang von maximal 1 Seite, Times New Roman 12, 1,5 Zeilen Abstand) werden in elektronischer Form (Word-Dokument) an folgende Mail-Adressen erbeten: c.moser@uni-bonn.de, LindaSimonis@web.de

Einsendeschluß ist der 15. August 2010.

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