»Komparatistik als Arbeit am Mythos« XII. Tagung der DGAVL in Jena vom 22. Mai – 25. Mai 2002

Call for Papers

„Einige Gegenstände des menschlichen Nachdenkens reizen, weil es so in ihnen liegt oder in uns, zu immer tieferem Nachdenken, und je mehr wir diesem Reize folgen und uns in sie verlieren, je mehr werden sie alle zu Einem Gegenstande, den wir, je nachdem wir ihn in uns oder außer uns suchen und finden, als Natur der Dinge oder als Bestimmung des Menschen charakterisieren.“

Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit

 

„Arbeit am Mythos“: Schon das von Blumenberg entlehnte Leitwort ist mehrdeutig, läßt es sich doch sowohl auf die Unabgeschlossenheit von Mythen und die sich bis in die Gegenwart hinein auf vielfältige Weise manifestierenden Möglichkeiten beziehen, tradierte Mythen umzuschreiben und neue Mythen zu begründen, als auch auf die Bemühungen der Philosophie, der Kultur- und Geisteswissenschaften, das Mythische reflektorisch aufzuarbeiten und funktional wie begrifflich zu bestimmen. In der Literatur der Moderne konvergieren beide Formen der „Arbeit“ am Mythos: die transformatisch-schöpferische wie die reflektorische.
„Komparatistik als….“: Die Frage nach dem spezifischen Fachprofil oder, emphatischer, nach der Identität der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ist gegenwärtig weniger überflüssig denn je, und dies aus mehreren Gründen: Erstens besteht unter den Vertretern des Fachs und denen, die ihnen nahestehen, kein Konsens darüber, was Komparatistik ist oder doch sein sollte, was zu den originären und was zu den eher peripheren Themen und Gegenständen komparatistischer Forschung gehört. Zweitens sind in der Interaktion zwischen den Terrains der einzelnen Geistes- und Kulturwissenschaften Umstrukturierungs- und Expansionstendenzen zu registrieren, welche auf Grenzverschiebungen und Grenzverwischungen abzielen: Erkennbar sind zwar einerseits solche Tendenzen, die vom Gelände der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ausgehen und im Zeichen einer Erweiterung des Begriffs „Komparatistik“ auf die Erschließung benachbarter Arbeitsfelder abzielen, andererseits solche, welche, von anderen Disziplinen ausgehend, die Komparatistik als Arrondierung des Geländes verwandter Fächer eilig zu deren „Teilfach“ deklarieren. Die Besinnung oder Rückbesinnung aufs Eigene und aufs Fremde, ohnehin ein Hauptgeschäft der Komparatisten, erscheint bezogen auf die eigene disziplinäre Identität angebracht, auch wenn Grenzüberschreitung, Integration, Interdisziplinarität etc. aus guten Gründen im allgemeinen positiv besetzte Termini sind.

Prinzipiell läßt sich das besondere Profil einer wissenschaftlichen Disziplin auf drei verschiedene (dabei miteinander kombinierbare) Weisen bestimmen und begründen: (1) über die spezifischen Gegenstände der wissenschaftlichen Erforschung, (2) über die spezifischen methodischen Instrumentarien der Disziplin, (3) über die Geschichte des Faches (manche Dinge kann man ja, mit Hermann Lübbe gesprochen, ohnehin nur erzählen, nicht erklären im Sinne von begründen). Das Thema „Komparatistik als Arbeit am Mythos“ impliziert den Vorschlag, argumentierend die ersten beiden Möglichkeiten zu nutzen; Anschlußstellen bestehen jedoch auch zur historischen Betrachtungsweise. Vergleichende Literaturgeschichte und Vergleichende Mythenforschung entstanden zur gleichen Zeit, genährt von analogen Erkenntnisinteressen und unter gleichartigen diskursiven Voraussetzungen, und ihre Interessen sind von der Romantik bis heute eng miteinander verknüpft. Wie kaum ein anderes Gegenstandsfeld lädt das des Mythische zum Vergleich ein und ist Erkenntnis hier auf den Vergleich gegründet: Das mythische Feld ist transnational, je nach Akzentuierung und Perspektive auch transkulturell, und es läßt sich anders als mit den Mitteln einer vergleichenden Wissenschaft gar nicht erschließen. Zudem steht die Auseinandersetzung um den Mythos und die ästhetische Gestaltung von Mythen auch unter diachroner Hinsicht im Zeichen des Vergleichs, und es ist nicht die ‘Querelle des Anciens et des Modernes’, welche dem vergleichenden Interesse an alten und neuen Spielformen des Mythischen neue Impulse gibt.
Bei der sachbezogenen Arbeit könnten sich u.a. folgende Schwerpunktbildungen ergeben:

1) Ambivalenz des Mythischen: Mit der Doppelformel „Terror und Spiel“, die u.a. ein Stück komparatistischer Fachgeschichte repräsentiert, ist eine entscheidende Ambiguität des Mythischen bezeichnet. Eine andere ergibt sich aus der kontroversen Beantwortung der Frage nach der Beziehung zwischen „Mythos“ und „Logos“, eine wiederum andere – und weitere wären zu nennen – aus der Kontroverse über die Geraltion zwischen Mythen, Geschichten und Geschichte. Die Heterogenität und Unvereinbarkeit der Mythos-Konzepte kann den wissenschaftlichen Diskurs durchaus stimulieren. Über diesen hinausweisend, inspiriert vor allem Odo Marquards programmatische Feststellung, „daß wir ohne Mythen nicht auskommen“.
(2) Mythos – Sprache – Literatur: Umstritten ist auch die Frage, ob das Medium Sprache dem Mythischen in höheren Maße affin sei als das der Bilder (der bildenden Kunst), wie es der komplexe Sinn des griechischen Begriffs suggeriert. Eine durch die jüngere Kunstgeschichte ebenso wie durch umfassendere diskursgeschichtliche Entwicklungen provozierte Anschlußfrage könnte lauten, ob die Bindung des Mythischen ans Sprachliche historischen Veränderungen unterliegt, ob es gar Tendenzen zur Emanzipation vom Sprachlichen gibt, welche aus einem Funktionswandel des sprachlichen Paradigmas resultieren.
(3) Mythos und internationale Moderne: Insofern das Bewußtsein der Moderne vielfach durch das Stichwort von der „Kontingenzerfahrung“ charakterisiert wird, Mythen aber demgegenüber als Formen der Kontingenzberwältigung reflektiert werden, stellt sich die Frage nach der spezifischen Signifikanz des Mythischen in der Moderne mit besonderem Nachdruck. Sie ist eng verknüpft mit der Diskussion über Bedeutung und Funktionen des Erzählens unter sich wandelnden diskursgeschichtlichen Voraussetzungen. Eine mögliche Anschlußfrage wäre die nach der Beziehung zwischen Mythos und „Nachmoderne“.

(4) Mythos und Neubeginn: Eine interessante Fokussierung des Generalthemas ergibt sich im Zeichen der Frage nach den Spielformen des Rekurses auf Mythisches in der Nachkriegsliteratur als einer Ära des versuchten Neuanfangs und der erstrebten Neuorientierung. Hier böte sich unter anderem ein Vergleich zwischen den Literaturen der beiden Teile Deutschlands an, wobei etwa zu erörtern wäre, ob und in welcher Weise jeweils der (Wieder-)Anschluß an die Weltliteratur gesucht wurde, unter welchen konkreten literaturpolitischen und literatursoziologischen Voraussetzungen dies geschah und ob sich beim Vergleich der literarischen Arbeit am Mythos in den beiden teilen Deutschlands signifikante differentielle Befunde ergeben.
Ohne günstige praktische Konstellationen in programmatischem Sinn überzuinterpretieren, abschließend noch eine Anmerkung zu Jena als Tagungsort: Gerade diese Stadt bietet als Wirkungsstätte der Frühromantiker einen willkommenen Anlaß bietet, sich des Schlegelschen Programms einer „Neuen Mythologie“ zu erinnern und die Frage nach seinen Implikationen sowie nach seiner möglichen Aktualität zu bedenken. Hier ist aber zudem auch die Reflexion über die nun ein gutes halbes Jahrhundert umfassende Literaturgeschichte eines doppelten Deutschland in besonderem Maße „am Platze“, mit der eine intranationale die internationale Komparatistik ergänzen könnte.

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